WAHRNEHMUNGSSTÖRUNGEN

Jeder geht davon aus, dass sich die Welt für alle so darstellt wie man sie selbst wahrnimmt. Wenn Kinder an einer Wahrnehmungsstörung leiden, so stellt sich die Welt für diese Kinder anders dar. Betroffene Kinder sind zwar in der Lage normal zu hören und zu sehen, jedoch ist die Weiterleitung dieser wahrgenommenen Reize zum Gehirn beeinträchtigt, was dazu führt, dass diese Informationen anders gedeutet werden und deshalb für diese Kinder die Sinneswahrnehmung ganz anders erscheint. Die Probleme, die sich je nach Ausprägung dieser Wahrnehmungsstörung ergeben, stören die Entwicklung der Kinder zum Teil massiv.

So kann eine akustische Wahrnehmungsstörung Probleme bei der Aussprache des Kindes verursachen. Eine optische Wahrnehmungsstörung kann den Kindern die räumliche Wahrnehmung erschweren, oder es ist ihnen sogar unmöglich räumlich zu sehen. Eine Wahrnehmungsstörung im Bereich des Gleichgewichts kann große Schwierigkeiten mit dem „ruhig sitzen“ in der Schule zur Folge haben. Kann das Kind die Kraft nicht dosieren oder spürt es seinen Körper nicht gut, hat es ein Problem in der Eigenwahrnehmung (Tiefenwahrnehmung).

Auch bei Jugendlichen verhält es sich ähnlich. Zwar haben die jungen Erwachsenen zum Teil schon gelernt mit ihrer Beeinträchtigung den Alltag zu meistern, jedoch leiden oft die schulischen Leistungen oder die Leistungen am Ausbildungsplatz stark unter den Wahrnehmungsstörungen.

BASISSINNE UND TYPISCHE MERKMALE DER KINDER MIT DEN WAHRNEHMUNGSSTÖRUNGEN

Die wichtigsten Bereiche (die Grundlage unserer Sinneswahrnehmung) sind die körpernahen Sinne/Basissinne:

Bei jedem betroffenen Kind kommen bestimmte Merkmale vor, je nach dem welcher Bereich oder welche Bereiche der Wahrnehmung und in welcher Ausprägung betroffen sind. Die einzelnen oben genannten Nahsinne/Basisinne und die Fernsinne (Sehen, Hören, Schmecken, Riechen) hängen sehr eng zusammen, sie sind voneinander abhängig. Kommt zu einem Problem in einem Sinnesbereich, werden andere Sinne/Bereiche auch betroffen. Aus dem Grund hat kaum ein Kind eine Wahrnehmungsstörung aussließlich nur im einen Sinnesbereich. Es kommt aber oft vor, dass die Wahrnehmungsprobleme in einem Bereich dominant, am stärksten ausgeprägt sind.

WAHRNEHMUNGSHAUS NACH UTE JUNGE

Ute Junge weist in ihrem Buch „Das Wahrnehmungshaus“ und in ihren Ausbildungen auf die Grundlagen der Wahrnehmungsprobleme bei Kindern hin. Ihre über 30-jährige praktische Arbeit mit diesen Kindern zeigt, wie wir ihnen konkret helfen können ihre Wahrnehmungsdefizite zu verbessern. 

Das Fundament des Wahrnehmungshauses von Ute Junge bilden die Nahsinne und die Fernsinne. Liegt ein Problem in diesem Teil des Hauses, hat es immer die Folgen in den nächsten/höheren Etagen des Wahrnehmungshauses. Schreibt das Kind zum Beispiel in der ersten Klasse aus der Schulter oder kann es den Stift im Dreifingergriff nicht halten, liegt das Problem in der Eigenwahrnehmung/Tiefenwahrnehmung. In diesem Sinnesbereich braucht das Kind Förderung um die Lockerung des Handgelenkes zu erreichen und um allgemein das Erlernen des Schreibens zu verbesssern.

Ute Junge, Das Wahrnehmungshaus 4. Auflage, Kosten: € 20,- (zuzügl. Versandkosten)
zu bestellen per Mail: ute.junge(at)gmx.net , www.utejunge.de

SENSORISCHE INTEGRATION UND SENSOMOTORISCHE WAHRNEHMUNGSFÖRDERUNG

Sensorische Integration bedeutet eine gute Zusammenarbeit aller Sinne. Sensomotorische Wahrnehmungsförderung, oftmals auch sensorische Integration genannt, fördert die Basissinne (Eigenwahrnehmung, Gleichgewicht und Tastsinn) durch gezielt ausgewählte Bewegungsarten. Es werden Kindern mit Wahrnehmungsproblemen wiederholt solche Angebote gemacht, die den schlecht funktionierenden Wahrnehmungsbereich/e ansprechen und verbessern. Ein Kind, das zum Beispiel im Tastsinn Defizite zeigt, darf Gegenstände in einem Sack ertasten oder in Maisstärkemasse matschen. Sensomotorische Wahrnehmungsförderung soll dazu führen, dass Sinnesreize besser aufgenommen, geleitet und im Gehirn geordnet und bearbeitet werden, was zu den normalen Reaktionen, Rückmeldungen führt. Ein Kind zeigt zum Beispiel Freude, lacht, nachdem es in der Sackschaukel den eigenen Körper gespürt hat (Eigenwahrnehmung) und Lineare- und Drehbewegungen erlebt hat (Gleichgewicht). Hoch wirksam ist z. B. eine Cremerutsche, die bei den Kindern besonders beliebt ist. Auf der sehr rutschigen Unterlage können Kinder die Bewegungen des ersten Lebensjahres nachmachen (Bauchlage, Rückenlage, Diagonale, Krabbeln, Robben, Aufstehen, Runterfallen). Das Hauptproblem, das hinter den meisten Wahrnehmungsproblemen steckt, ist, dass Kinder nicht alle notwendigen Bewegungen im ersten Lebensjahr durchgemacht haben, beziehungsweise diese nicht ausreichend durchgemacht haben.  Die Cremerutsche spricht alle drei Basissinne an. Spaß und Freude am Tun und das Experimentieren stehen im Vordergrund.

Je früher das Kind mit sensomotorischer Wahrnehmungsförderung beginnt, desto schneller kann es fehlende Bereiche nachholen und bevorstehende Probleme in der Schule vermeiden oder vermindern. Auch im Schulalter kann man Wahrnehmungsprobleme immer noch durch gezielte sensomotorische Wahrnehmungsförderung verbessern.

SOZIALES LEBEN (Verhalten)

Jede Wahrnehmungsstörung zeigt sich im Verhalten des Kindes. Es ist klar, dass gerade diese Kinder für ihre Umgebung/für Ihre Bezugspersonen besonders anstrengend sind. Aufgrund von Unwissenheit werden sie oft als „schlimme“ Kinder oder schlecht erzogene Kinder bezeichnet. Sie werden erzieherischen Konsequenzen unterzogen, die jedoch nicht greifen. Spätestens jetzt müsste allen Erziehungspersonen klar sein, dass diese Verhaltensansätze eine andere Ursache/Grundlage haben und dass die oftmals extremen Verhaltensweisen ein Zeichen der Hilfslosigkeit des Kindes sind, das nach Hilfe ruft. Der Selbstwert dieser Kinder ist sehr niedrig, weil sie von allen Seiten hören und auch selbst sehen, dass sie nicht gut genug sind, dass sie den Vorstellungen, Erwartungen und Anforderungen der Eltern, anderer Kinder, des Kindergartens, des Horts und der Schule nicht entsprechen. Sie können es aber leider selbst nicht ändern.

Von Pädagogen oder anderen Spezialisten werden oftmals Probleme im Umfeld des Kindes (in der Familie) gesucht, in dem diese Kinder aufwachsen. Verhaltensauffälligkeiten, die eine Grundlage in einer Wahrnehmungsstörung haben, betreffen gleichermaßen stabile, gut funktionierende Familien als auch sozial schwache, problematische Familien. Natürlich in Fällen, bei denen zusätzlich familiäre Probleme zu Wahrnehmungsstörungen dazu kommen, sind die Schwierigkeiten im sozialen Leben noch extremer. Es kann schwerwiegende Folgen für die Entwicklung des Kindes haben. Kinder mit Wahrnehmungsstörungen brauchen sehr viel Verständnis, Unterstützung, Hilfe und Liebe von den Eltern oder anderen Bezugspersonen. Ohne dass Pädagogen und andere Kontaktpersonen eine positive Beziehung mit ihnen aufbauen, wird das Verhältnis zu diesen Kindern nicht funktionieren. Kinder mit Wahrnehmungsstörungen brauchen eine sehr starke Führung, viel Struktur und Konsequenz. Laissez-faire Erziehung ist das Letzte, das diese Kinder brauchen. Die Eltern brauchen auch viel Hilfe und Unterstützung von außen, damit sie schwere Zeiten mit ihrem Kind durchstehen und die sehr wichtige Stabilität und Sicherheit, die diese Kinder besonders brauchen, geben können.

Kinder und Jugendliche mit Wahrnehmungsproblemen haben es in den Kinderbetreuungseinrichtungen und vor allem in den klassischen Schulen nicht leicht. Sie sind sehr oft frustriert. Obwohl sie sich anfangs bemühen, kommen die Ergebnisse nicht immer wie erwünscht. Es wird von den Pädagogen der Zusammenhang zwischen Verhalten und Wahrnehmungsproblem oft nicht gesehen. Es wird häufig selbst das Wahrnehmungsproblem nicht erkannt. In den pädagogischen Ausbildungen fehlt der tiefgründige Lernstoff zu den Grundlagen der Wahrnehmungsstörungen. Die Pädagogen leisten in überfüllten Klassen, Gruppen großartiges… Für den individuellen Zugang zu Wahrnehmungskindern bleibt keine Zeit. Diese Kinder kann man in der Masse nicht so behandeln wie die Mehrheit, weil es nicht funktioniert. Pädagogen, die allein in der Klasse/Gruppe stehen, kommen an ihre Grenzen. Es kommt zu Konflikten zwischen den Eltern der betroffenen Kinder und den Pädagogen. Die Fehler bei den Eltern, bei den Pädagogen oder bei den Kindern zu suchen ist falsch. Die Eltern sind nicht schuld, die Pädagogen sind nicht schuld und die Kinder schon überhaupt nicht. Das System ist das Problem. Wenig Personal an den Schulen und in den Kinderbetreuungseinrichtungen ermöglicht kaum einen individuellen Zugang. Neue pädagogische Ansätze sind gefragt. Die Lehrer sind überlastet, denn sie müssen den Lehrplan einhalten. Die Kinder sind gestresst und frustriert, was zu negativen Emotionen und zu den nächsten destruktiven Verhaltensweisen führt. Die Eltern sind hilflos. Das Hamsterrad läuft immer schneller …

ZAHLEN, DIAGNOSEN

Die Anzahl der Kinder mit Wahrnehmungsproblemen ist sehr hoch,…  mit steigender Tendenz. Es sind ca. 15 – 20 % aller Kinder. Es wird nur ein Teil von ihnen erkannt und diagnostiziert. Selbst Diagnosen wie ADS, ADHS sind sehr unklar. Sie werden leicht mit anderen Wahrnehmungsbildern verwechselt. Ein Kind, das jede Kleinigkeit ablenkt und nicht in der Lage ist sich in einer überladenen, geräuschvollen Klasse zu konzentrieren, muss nicht gleich an ADS leiden. Es kann ein hochsensibles Kind sein, das durch seine intensive Wahrnehmung stark unter Reizüberflutung leidet, die es ihm unmöglich macht, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Nicht selten wird hochbegabten Kindern auch eine Diagnose, wie ADS, ADHS zugeteilt, weil sie im Unterricht aufgrund von Unterforderung oder Überreizung stören. Es werden allerdings auch weniger bekannte Diagnosen, die doch stark vertreten sind, wie z. B. Dyspraxie (10 %) gerne mit ADS, ADHS verwechselt. Es ist da trotzdem wichtig zu sagen, dass Wahrnehmungsstörungen mit Hochsensibilität oder auch mit Hochbegabung nicht selten gekoppelt bei einem Kind vorkommen können.

Viel wichtiger als unklare Diagnosen zu stellen, wäre es zu lernen, was in Wirklichkeit hinter dem Verhaltensproblem steckt und den Eltern eine Beratung und langfristige Hilfestellung anzubieten. Die Eltern könnten dabei lernen mit ihrem Wahrnehmungskind umzugehen und selbst täglich aktiv neben den fachlichen Therapien an einer Verbesserung zu arbeiten. Es ist sehr hilfreich, wenn das Kind einmal in der Woche eine Ergotherapie-Stunde absolviert. Sehr wichtig wäre auch, dass die Eltern täglich selbst am Hauptproblem des Kindes arbeiten, z. B. statt Computerspielen mit dem Kind in den Wald, auf den Spielplatz, in einen Motorik Park zu gehen, wo das Kind die Sinnesreize sammeln kann, die es zur Verbesserung seiner Wahrnehmung braucht.

Die gute Nachricht ist: Mit zunehmendem Alter wird das Verhalten von Kindern mit den Wahrnehmungsproblemen besser (unter guten Umfeldbedingungen, Förderung, Unterstützung und Liebe). Das Kind lernt mit der Zeit seine Defizite zu kompensieren, mit ihnen zu leben, die Emotionen unter Kontrolle zu halten. Das soziale Leben verbessert sich deutlich. Spätestens mit 9 – 10 Jahren wird es sichtbar. Im emotionalen Leben brauchen sie am längsten. Emotionale Ausbrüche werden mit zunehmendem Alter aber auch langsam abnehmen.